Der Titel der beliebten Stadtarchiv-Serie „Foto des Monats“ darf bei Betrachtung des Bildes wörtlich genommen werden. Denn es behandelt in der nunmehrigen Ausgabe das wiedergegebene Objekt nur am Rande. Im Mittelpunkt der Erörterung steht nämlich diesmal der Bildträger selbst: die fotografische Aufnahme.
Über das Historische Rathaus der Stadt Bocholt ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder sehr viel geschrieben, trotzdem ist das letzte Wort darüber noch nicht gesprochen worden - auch nicht im Rahmen des Stadtjubiläums 800 Jahre Bocholt. In der Vergangenheit hat sich die Meinung gefestigt, diese älteste Fotografie des 1618 errichteten Gebäudes sei um das Jahr 1871 entstanden. Als Begründung wird dabei vorgebracht, dass das Bild als Vorlage für den in gleicher Perspektive gestalteten Holzschnitt des Rathauses aus der Leipziger "Beilage zur Illustrierten Zeitung" vom 6. Mai 1871 gedient habe. Nach Aktenlage bestehen aber berechtigte Zweifel an der bislang geltenden Auffassung.
Zum Hintergrund: 1887, vor 135 Jahren, stand eine Restaurierung der Rathausfassade in der Diskussion. Nach einem Voranschlag sollten sich die Kosten auf rund 25.000 Mark summieren, ein Betrag, den die Stadtverwaltung allein nicht aufbringen konnte. Beim Regierungspräsidenten in Münster wurde daher ein Zuschuss aus Provinzial- und Staatsfonds beantragt. Zur Verdeutlichung dieser Angelegenheit fügte man dem Bittschreiben neben einer Erläuterung auch einen Grundstücks- und Gebäudegrundriss sowie eine Fotografie des Rathauses bei. Es gab also einen erwiesenen Grund, eine erstklassige fotografische Abbildung des Gebäudes aufwändig herzustellen. Um zu bestätigen, dass das Foto aus jener Zeit stammt, ist im Bezug zum erwähnten Hintergrund eine genaue Untersuchung des Dargestellten erforderlich.
Eine derart exzellente Aufnahme konnte nur von einem sprichwörtlichen "Profi", von einem Fotokünstler ersten Ranges hergestellt werden. Denn: Was sieht man hier, und was sieht man hier nicht?
Betrachtet man die Fotografie, so fällt auf, dass die räumliche Umgebung des Rathauses so gut wie menschenleer ist. Der unter der Woche recht belebte Marktplatz erscheint wie ausgestorben. Der Fotograf wird einen Tag oder einen Zeitpunkt gewählt haben, an dem das witterungsbedingte Wechselspiel von Licht und Schatten ausgeschlossen war. Es war ihm wichtig, das Rathaus in seiner ganzen starren Erscheinung, in Schärfe und Klarheit für sich selbst sprechen zu lassen, ohne ablenkende kursierende Einflüsse.
Dieses Foto ist kein "Knipser", kein Schnappschuss und kein Erinnerungsbild. Der Meister wusste genau, dieses Bild würde der Regierungspräsident persönlich in die Hand bekommen. Die Anforderungen der Auftraggeber vereinigte er mit seinen eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten für eine perfekte Aufnahme. Und für die Herstellung des bestellten Fotos wählte der Weseler Hoffotograf Meyer Frankfurter einen idealen Tag aus: den ruhigen frühherbstlichen Sonntagmorgen, den 9. Oktober 1887, als die Gotteshäuser voll besetzt, die Straßen der Stadt aber wie leergefegt waren.
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Bild: Bocholter Rathaus Oktober 1887 (Copyright: Bildarchiv LWL-DLBW)